Grenzen setzen – Wenn man von Vorgesetzten angebrüllt wird

3. Juli 2022

Wer kennt es nicht aus der Klinik – brüllende Vorgesetzte? In den hierarchischen Strukturen erscheint es Gang und Gebe und beinahe Teil des guten Tons cholerisch schreien zu dürfen. Wie kann man in so einer Situation als betroffene Person damit umgehen? Eine schwierige Situation, zu der ich einen Ausweg suche und vielleicht auch gefunden habe. In diesem Beitrag lernst du, wie man Grenzen setzen kann.

Bereits im klinischen Teil des Studium habe ich von ihnen gehört – den schreienden ChefärztInnen und OberärztInnen, die im OP auch gerne mal mit Besteck um sich werfen, wenn etwas nicht läuft, wie es soll.

Auch ich selbst wurde schon angeschrien. Mehrfach. Auch zu Tränen und dann wurde weiter geschrien und geschimpft. Verrückt, dass mir das passiert ist und dass ich das als erwachsene Person mit mir habe machen lassen

Diese Erfahrungen haben bereits dazu geführt, dass ich mit Angst zur Arbeit gekommen bin oder einen Dienst getauscht habe, weil ich Angst vor meinem oberärztlichen Hintergrund hatte. Auch anderen KollegInnen geht es ähnlich. Über den Unterschied zwischen Respekt und Hierarchie und die damit verbundene Angst vor Vorgesetzten habe ich bereits eine Podcast-Folge veröffentlicht. Du findest sie hier (Interview mit Flugbegleiterin Katharina).

Ob ich mit meinem Wissen heute in einer ähnlichen Situation wieder in Tränen ausbrechen würde, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Es hat sich vieles verändert und ich habe mich gefragt, wie ich der anderen Person das erlaubende Signal für ihr Verhalten geliefert habe. Außerdem habe ich jetzt einen Fahrplan, den ich heute mit euch teilen möchte.

Aus der Klinik

Folgende Situation ist mir vor ein paar Wochen passiert: Ich wurde von einem Oberarzt schreiend aus dem OP geworfen und durch eine andere Assistentin ersetzt. Der Grund dafür war, dass ich für einen kurzen Moment für ein menschliches Bedürfnis vor dem Einwaschen den Saal verlassen und mein Telefon nicht mitgenommen habe. Ich wollte schließlich schnell wieder zurück sein und habe mich bei der OP-Pflege kurz abgemeldet, nicht jedoch bei dem Oberarzt, der schon im Waschraum war. 

Als ich ein paar Minuten später – es waren wirklich nur wenige Minuten – eingewaschen zurück in den Saal trat, erfasste mich eine Welle schreiender, oberärztlicher Wut. Ich wurde aus dem OP geworfen, weil ich 2 Minuten nicht anwesend war. Es gab noch ein paar weitere kleine Dinge, die vorgefallen sind, als ich nicht anwesend war, die jedoch nichts mit mir zu tun hatten. Das hatte ich im Nachgang von der OP-Pflege erfahren und darum soll es in diesem Beitrag auch nicht gehen.

Wie habe ich in der Situation reagiert: Ich war sehr perplex, ich wurde wütend über diese Ungerechtigkeit, habe gestammelt, war in Schockstarre und bin dann sprachlos aus dem Saal gegangen. Ich habe es als ‘untergeordnete Person’, beinahe wie ein ‘Opfer’ geschehen lassen.

Im Nachgang habe ich häufig darüber nachgedacht mit ihm nochmals über die Situation zu sprechen, was ich im Vorfeld auch schon getan hatte. Es war nicht sein erster Wutausbruch mit unangemessenem und respektlosem Verhalten mir gegenüber. Und auch andere AssistentInnen wurden schon von ihm von Oberarzt-Visiten ‘geschmissen’.

Ich konnte den Mut und tatsächlich auch nicht die Motivation aufbringen mit ihm zu reden. Solange er mich nicht respektiert, würde er sich immer wieder so verhalten – Gespräch hin oder her – dachte ich.

„Wer mich ärgert, bestimme immer noch ich.“

– Karin Kuschik

Wieso reagiere ich mit einer Schockstarre, wenn ich angebrüllt werde?

Dennoch beschäftigt mich mein Verhalten in der Situation. Was habe ich in der Vergangenheit in solchen Situationen signalisiert, dass sich vorgesetzte Personen so verhalten konnten?

Gute Antworten auf diese Frage habe ich in den Sitzungen mit meiner Therapeutin und in dem Buch von Martin Wehrle “Die netten beißen die Hunde” gefunden:

Mit meiner Therapeutin habe ich erarbeitet, dass in Situationen, in denen ich angebrüllt werde, mein Hirn in einen Überlebensmodus umschaltet und Situationen aus meiner Kindheit erinnert, in denen ich auch angeschrien worden bin. Ich stecke dann also im Kind-Modus und bin weniger eine erwachsene Person.

Diese Erkenntnis allein war für mich wie ein Aha-Moment. Und weil mein Hirn automatisch diesen ‘Reflex’ schaltet und mich in kindliche Schockstarre versetzt, bin ich auch als Erwachsene in einer Schockstarre. Als Kind hat mir dieses Reaktion geholfen, um weniger Ärger zu bekommen – schließlich hatte ich in diesen Momenten Angst und benötigte dringend Sicherheit und Schutz.

Als Erwachsene hilft mir die Schockstarre leider gar nicht, denn damit erlaube ich der anderen Person mich anzuschreien und schaffe es dabei nicht zu signalisieren, dass das Verhalten meines Gegenübers absolut inakzeptabel ist. Ergo wird diese Person sich in Zukunft auch nicht anders verhalten.

Wir erscheinen oft hilflos in Situationen, die uns zum Beispiel an ähnliche Situationen in unserer Kindheit erinnern.
Photo by Carolina Heza on Unsplash

Was kann ich machen, wenn ich angebrüllt werde?

Hier möchte ich auf passende Teile des Buches von Martin Wehrle (s.o.) eingehen. Wehrle ist Buchautor und Karrierecoach und schildert sehr passende Erfahrungsberichte seiner KlientInnen, in denen ich mich häufig wieder gefunden habe.

Dazu gibt er sinnvolle Lösungswege an, von denen ich euch folgende für die Situation des Anbrüllens vorstellen möchte.

So schreibt er in seinem Buch “Die netten beißen die Hunde” über eine Situation, in der er selbst auch angebrüllt wurde: 

Bewertung aus heutiger Sicht: Ich hätte mir die aggressive Form ihrer Äußerung verbitten müssen, statt über den Inhalt zu sprechen: ‘Ihre Lautstärke lässt kein vernünftiges Gespräch zu. Ich fühle mich gerade sehr gestresst. Entweder sprechen Sie leiser, dann können wir den Sachverhalt diskutieren. Oder ich lege jetzt auf.’

Kommentar [des Autors]: Je länger ich mir ihren Tonfall gefallen ließ, desto mehr fühlte sie sich dazu legitimiert. Und indem ich mich am Ende auch noch bei ihr entschuldigte (“… tut mir wirklich sehr leid”), statt umgekehrt, schleuderte ich mich vollends in den Tiefstatus. […] 

Meine Lehre: Lass dich nicht anbrüllen, auch wenn sich jemand über dich ärgert. Für seine Gefühle ist er verantwortlich, nicht du. Wahre deinen Selbstrespekt, dann respektieren dich auch andere.”

Im weiteren Verlauf des Buches gibt Wehrle auch noch konkrete Schritte an, wie man sich in einer solchen Situation abgrenzen kann:

“Sie halten bereits in der Situation das Stopp-Schild hoch, drohen eine Konsequenz an – und gehen danach, mutig und klar, in ein Vier-Augen-Gespräch.”

„Machen Sie sich bewusst, dass ihr Selbstwert mit einem Nein wächst (und nicht schwindet)“

– Martin Wehrle

1. Das Stopp-Schild hochhalten

Zugegeben: Das schreibt er nun so einfach.

Mir selbst wird häufiger mulmig bei dem Gedanken einer vorgesetzten Person, die gerade wild am schreien ist, mein Stopp-Schild hoch zu halten. Schließlich fühle ich mich von dieser Person auch abhängig – zum Beispiel was Ausbildung angeht, wenn es sich um besagte oberärztliche Person handelt. 

Jedoch bewegt und berührt mich ein Satz aus diesem Zitat ganz besonders: 

Wahre deinen Selbstrespekt, dann respektieren dich auch andere.”

Das sitzt, muss ich sagen. Wenn ich mich nicht selbst respektiere, dann werden es andere auch nicht tun. Und um mich selbst zu respektieren, setze und verteidige ich Grenzen, wenn diese überschritten werden. Dazu schreibt Wehrle noch sehr viel mehr, was den Rahmen dieses Beitrages jedoch sprengen würde.

Laut Wehrle ist es essentiell, Grenzen zu setzen, mutig und selbstbewusst zu agieren – das bedeutet in Sprache, Körperhaltung und Verhalten -, um als (nette) Person, oder eben Assistenzärztin, den notwendigen Respekt zu bekommen und auf Augenhöhe gesehen zu werden. Ich denke, dass er damit Recht hat.

Das Stoppschild hochhalten und seine Grenzen setzen hilft dir, deinen eigenen Selbstwert zu bewahren.
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2. Wähle Mut anstatt des einfachen und gewohnten Weges, wenn du angebrüllt wirst

Denn darauf zu hoffen, dass mein Oberarzt von sich aus anfängt mich mit Würde und Respekt als Mensch zu betrachten, erscheint mir hoffnungslos. 

Viel versprechender ist tatsächlich der von Wehrle vorgeschlagene Weg mutig zu sein.

Und Mut zu leben – to walk the talk (das ist in diesem Moment so entscheidend!) – zählt zu meinen Grundwerten seit ich der Arbeit von Brené Brown (Dare to lead) begegnet bin. So wurde ich seitdem immer belohnt, wenn ich Mut anstelle des gewohnten, einfachen Weges gewählt habe.

„“Bist du Pilotin in deinem Leben oder sitzt du hinten auf Platz 43B ohne Armlehne?“

– Karin Kuschnik

3. In die Umsetzung kommen

Wehrle gibt für solche Situationen dem Leser auch noch eine Übung mit an die Hand:

“Wann haben Sie das Gefühl, dass sich andere Ihnen gegenüber im Ton vergreifen? Bitte denken Sie sich eine Reaktion aus, mit der Sie den anderen in seine Grenzen weisen – und jenen Ton einfordern, den Sie für eine Zusammenarbeit brauchen. Probieren Sie dieses Verhalten beim nächsten Angriff aus.”

Übertragen auf meine Situation, wie würde ich aus heutiger Sicht anders reagieren wollen.

Mein mutiger und selbstbewusster Lösungsvorschlag (mit Hilfe von Martin Wehrle):

Ich verbitte mir diesen Tonfall, sonst verlasse ich diesen Raum (weil ich es will und nicht, weil er es mir befiehlt). Ich biete an, dass wir, wenn er sich beruhigt hat, ein Gespräch zu zweit führen können, damit ich mir sein Problem anhöre und wir eine Lösung finden. Voraussetzung dafür ist ein zivilisierter Umgang auf menschlicher Augenhöhe.

Ganz wichtig dabei ist, dass ich mutig, selbstbewusst agiere und dass ich auf Weichmacher und Entschuldigungen verzichte. Schließlich stehe ich zu mir und meiner Person und weiß, dass brüllender Umgang meine Grenze überschreitet. Also verteidige ich meine Grenze klar und deutlich ohne Weichmacher. Ein Weichmacher ist beispielsweise “vielleicht”.

Wenn ich das nicht machen würde, wäre es, als wäre ich eine Burg, die ihre Grenzen versucht zu verteidigen, aber irgendwo eine Leiter an die Mauer stellt, damit man darüber die Burgmauer (=meine Grenze) erklimmen kann.

Ein respektvoller Umgang miteinander ist das A und O eines guten Teams.
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Meine Schlussfolgerung

Ich habe für mich aus der Situation eine ganze Menge gelernt und werde nun, sollte ich wieder von einer vorgesetzten Person angebrüllt werden, einen Fahrplan für mich haben, der mir vorgibt, wie ich mich verhalten möchte.

Den notwendigen Mut sammel ich jetzt schonmal und ich bin ganz zuversichtlich, dass ich den Schritt wagen und gehen werde. 

Vielleicht wird es nicht direkt perfekt laufen. Das ist jedoch nicht schlimm, denn ich bin dann immerhin für mich eingetreten, habe mich als erwachsene Person nicht einfach anschreien lassen und habe somit mir selbst bereits Respekt entgegengebracht. 

Außerdem habe ich nichts zu verlieren.

Diese Gedanken allein lassen mich mit weniger Angst und selbstsicherer auf besagte Ereignisse warten. 

„Lass dich nicht anbrüllen, auch wenn sich jemand über dich ärgert. Für seine Gefühle ist er verantwortlich, nicht du. Wahre deinen Selbstrespekt, dann respektieren dich auch andere.“

– Martin Wehrle

Wie sind deine Erfahrungen? Wurdest oder wirst du auch angebrüllt? Wie gehst du mit solchen Situationen um? Hast du einen Weg gefunden, den du mit uns teilen möchtest?

Dann schreibe mir eine Mail an nicole@arztsein.com oder komm mit mir auf Instagram in Kontakt (@ArztSein). Ich freue mich, wie immer, darauf von euch und euren Gedanken zu diesem Thema zu hören.

Bis bald, Eure Nicole.

Hi, ich bin Nicole. Ich habe das Projekt ‘Arzt-Sein’ ins Leben gerufen, um Themen vorstellen, die mich auf meinem bisherigen Ausbildungsweg beschäftigt haben und für die ich im normalen Klinik-Assistenten-Leben keine Antworten gefunden habe.

Podcast.

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