Der Gamechanger-Tipp für den Berufsstart als Arzt – gilt für jede neue Herausforderung!

1. Oktober 2023

“Nicole, was ist dein Gamechanger-Tipp für den Berufsstart als Arzt?” Diese Frage wurde mir in einem Q&A von einer Teilnehmerin der ersten Kursgruppe von Sicher Starten gestellt. Und ich dachte, die Antwort ist für euch bestimmt genauso spannend.

Also legen wir am besten einmal los!

Nicht nur der Berufsstart, auch jeder Start in einem neuen Bereich oder in einer neuen Position, ist am Anfang für fast alle Nerven aufreibend. Denn man befindet sich wieder außerhalb der eigenen Komfortzone

Es gilt neue Inhalte zu lernen – sei es ein neuer Arbeitsplatz, das neue Tragen von Verantwortung, neue medizinische Inhalte, neue Patient*innen, ein neues Team, … 

Ich könnte die Liste an neuen Umständen noch eine Weile fortführen.

Was ist für uns belastend, dass wir als Arzt oder Ärztin auch Angst beim Berufsstart oder in neuen Situationen haben?

Wenn wir Dinge gelernt haben und abschätzen können, was auf uns zukommt, wenn wir Dinge im Schlaf erledigen können, dann befinden wir uns in der Regel in unserer Komfortzone

Hier ist es gemütlich. Wir kommen zurecht, fühlen uns sicher, können uns sogar ausruhen. Ein Nachteil: Wir lernen hier nicht

Denn Lernen und Wachstum findet außerhalb der Komfortzone statt.

Zurück zu unserer Komfortzone – hier befinden wir uns zu Beginn einer neuen Lernphase natürlich nicht. Ganz im Gegenteil. 

Je nachdem, wie du in deinen neuen Bereich startet, kann es sein, dass du am Ende in der Angstzone landest – hier geschieht garantiert kein Wachstum. Denn du bist von den vielen Eindrücken, Anforderungen und Umständen so überfordert, dass du mit Angst zur Arbeit gehst und dich ständig fragst, ob du deine Patient*innen gefährdest
Das zermürbt und bringt dich schnell an deine (emotionalen und körperlichen) Grenzen. Ähnlich ging es Jasmin. Hör dir am besten HIER das Interview mit ihr an. Jasmin hat in den ersten Monaten im neuen Beruf durch einen gefährlichen Mix aus Überforderung und Überlastung eine Angststörung entwickelt.

Aufgepasst: Diese Situation kann dir real Angst im Berufsstart als Arzt oder Ärztin machen

Stell dir die Situation vor: 

Du bist zum Beispiel alleine in der ZNA, im Kreißsaal, auf Station und wirst zu einem Notfall gerufen. Du erscheinst und hast keine Ahnung, was um dich herum passiert. 

Die Pflege/Hebammen und auch dein Notfallpatient schauen dich erwartungsvoll an und du kannst aufgrund deiner geringen Erfahrung nicht einmal einschätzen, was los ist, geschweige denn die richtigen Schritte in die Wege leiten.

Du greifst zum Telefon und suchst verzweifelt im Telefonbuch die Nummer deines Hintergrundes – auswendig kannst du sie nämlich noch nicht, ist ja erst deine zweite Woche. 

TikTak, die Zeit vergeht und deine innere Unruhe breitet sich jetzt in Wellen aus Angst in deinem Körper aus. Schließlich geht dein Hintergrund ans Telefon und Hilfe naht.

Ich möchte an dieser Stelle natürlich keine Angst schüren, sondern auf Situationen aufmerksam machen, die dir passieren können, wenn wirklich alles – z.B. wegen Krankmeldungen und dann fehlender Einarbeitung – schief läuft und du alleine da stehst.

Berufsstart alz Arzt
Keine Panik auf der Titanic, du schaffst das!
Photo by Tonik on Unsplash

Wie kannst du dir helfen, damit du im Berufsstart als Arzt oder Ärztin super zurecht kommst?

Deshalb nimm meinen nächsten Tipp unbedingt zu Herzen, denn er wird dir eine neue Welt eröffnen:

Nutze die Fähigkeit deines Gehirns mit deiner Vorstellungskraft bzw. dem Visualisieren zu lernen.

Denn eines der effektivsten Mittel, um Informationen zu vermitteln, ist die Verwendung von Bildern. Wenn wir lernen, wird unser Gehirn ständig mit neuen Informationen bombardiert, die verarbeitet und in Erinnerung behalten werden müssen. Eine Möglichkeit, diesen Lernprozess zu erleichtern und zu beschleunigen, ist durch Visualisierung.

Was ist Visualisierung?

Visualisierung ist eine Technik, bei der wir Informationen durch Bilder und Diagramme vermitteln. Diese Bilder können sowohl mental als auch physisch sein. Wir verwenden Visualisierung ständig im Alltag, ohne es zu bemerken. 

Beispielsweise verwenden wir Diagramme, um Daten auf einen Blick zu erfassen, oder wir stellen uns mentale Bilder vor, um uns an wichtige Informationen zu erinnern.

Insbesondere um die Fähigkeit, Prozesse durch mentales Durchdenken zu lernen, geht es mir heute in diesem Beitrag.

„Wer keine Visionen hat, vermag weder große Hoffnungen zu erfüllen, noch große Vorhaben zu verwirklichen.“

– Woodrow Wilson

Warum ist Visualisierung für den Berufsstart als Arzt effektiv?

Das menschliche Gehirn ist so konzipiert, dass es visuelle Informationen besser verarbeiten und behalten kann als andere Arten von Informationen.

Durch Visualisierung können wir Informationen in unser Langzeitgedächtnis aufnehmen, wo sie länger gespeichert werden und leichter abrufbar sind.

Es gibt Studien, die belegen, dass die Verwendung von Bildern dazu beitragen kann, das Gedächtnis zu verbessern und das Verständnis von komplexen Themen zu erleichtern:

Eine Studie von Elizabeth A. Davis und Joan M. Herbers aus dem Jahr 2017 untersuchte die Wirksamkeit von Visualisierungstechniken beim Lehren und Lernen von Wissenschaft. Die Forscher stellten fest, dass Visualisierungstechniken wie Diagramme und Grafiken dazu beitragen können, abstrakte Konzepte besser zu verstehen und zu merken.

Bernard Luskin beschäftigte sich bereits 2003 mit der Rolle der Visualisierung im Lernprozess und kam zu ähnlichen Ergebnissen. Seiner Studie zufolge fördert die Verwendung von Bildern und Grafiken im Lernprozess das Verständnis von Zusammenhängen und hilft uns dabei, neue Ideen zu entwickeln und kreatives Denken zu fördern.

Neben der Verbesserung von Verständnis und Merkfähigkeit kann die Verwendung von Visualisierungstechniken auch die Motivation zum Lernen steigern. Kristin Fontichiaro beschreibt in einem Artikel aus dem Jahr 2015, dass die Verwendung von Animationen, Videos und anderen visuellen Hilfsmitteln den Lernprozess interessanter und interaktiver gestalten kann.

Ein weiterer Vorteil der Verwendung von Visualisierungstechniken beim Lernen ist, dass sie uns helfen können, Informationen besser zu organisieren und zu strukturieren. Durch die Verwendung von Mind Maps und anderen Visualisierungstechniken können wir komplexe Zusammenhänge besser verstehen und uns an sie erinnern.

Lernen durch Visualisierung hilft uns auch in der Medizin

In der Medizin ist das Verständnis von anatomischen Strukturen und Prozessen von entscheidender Bedeutung, und Visualisierungstechniken können dabei helfen, diese zu verstehen. 

Eine Studie von K. L. Herrmann und Kollegen aus dem Jahr 2016 untersuchte die Auswirkungen von Visualisierungstechniken auf das Verständnis von Anatomie und Physiologie bei Medizinstudenten. Die Ergebnisse zeigten, dass Visualisierungstechniken wie anatomische Modelle und Videos das Verständnis der Studenten verbesserten und ihnen halfen, sich das Gelernte besser zu merken.

Visualisierungstechniken können auch bei der Diagnose und Behandlung von Patienten von Nutzen sein. Eine Studie von L. Bonney und Kollegen aus dem Jahr 2017 untersuchte die Auswirkungen von 3D-Druckmodellen auf die Entscheidungsfindung von Chirurgen bei komplexen Operationen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Verwendung von 3D-Druckmodellen dazu beitrug, bessere Entscheidungen zu treffen und die Operationszeiten zu verkürzen.

Ein weiterer Vorteil der Verwendung von Visualisierungstechniken in der Medizin ist, dass sie das Erlernen von Fertigkeiten und Verfahren unterstützen können. Eine Studie von M. H. Mann und Kollegen aus dem Jahr 2017 untersuchte die Auswirkungen von Virtual-Reality-Simulationen auf das Erlernen von chirurgischen Verfahren. Die Ergebnisse zeigten, dass die Verwendung von Virtual-Reality-Simulationen dazu beitrug, das Vertrauen der Chirurgen zu stärken und ihnen dabei half, sich besser auf reale Operationen vorzubereiten.

Visualizieren Berufsstart
Sogar das Aufschreiben deine Idee auf Haftnotizen zählt.
Photo by Kelly Sikkema on Unsplash

Wie kann man Visualisierung beim Lernen einsetzen?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Visualisierung beim Lernen eingesetzt werden kann. Hier sind einige Beispiele:

  1. Mind Maps
  2. Diagramme
  3. Bilder und Grafiken
  4. Animationen und Videos
  5. Und nun mein finally mein Gamechanger: Abläufe mental Durchdenken ähnlich wie in der Virtual-Reality-Simulation von Mann und Kollegen aus 2017.

All diese Punkte nutze ich tatsächlich zum Lernen. Zum einen habe ich mir bspw. die Anatomie des kleinen Beckens aufgemalt und bin sie im Anschluss immer wieder plastisch im Kopf durchgegangen, bis ich sie auswendig konnte.

Zum anderen hat es sich für mich ausgezahlt, dass ich mir Gedanken über Prozesse/Abläufe zum Beispiel bei der Patientenaufnahme gemacht habe. So konnte ich mir hervorragend merken, was ich wann alles machen muss, damit die Aufnahme reibungslos klappt. Dazu habe ich mir nicht immer eine Mind Map gemalt – oft hat es auch gereicht, die Schritte zu durchdenken und sie stichpunktartig in mein Kittelbuch aufzuschreiben.

Der absolute Gamechanger ist für mich weiterhin das mentale Durchdenken von Abläufen. Sei es die Naht einer Geburtsverletzung, eine Untersuchung oder eine Notsituation, wie eine Notsectio oder eine manuelle Plazentalösung.

Diese Abläufe habe ich mir  bis ins Detail vorgestellt und so gelernt, wie ich es im realen Notfall handhabe. Das klappt bisher wirklich hervorragend, weil ich weiß, was mein nächster Schritt ist und mein Körper diese Situationen auch schon “kennt”.

Tatsächlich habe ich auch festgestellt, dass genau die Notfälle, die ich bisher noch nicht gut mental durchgearbeitet habe, mir schwerer fallen. In diesen Situationen spüre ich mehr Unruhe und Angst, als wenn ich in einer Notsituation bin, die ich bereits “gelernt” habe.

Im Übrigen spiele ich so auch bereits abgelaufene Situationen nochmal in meinem Kopf durch und lerne so aus meinen Fehlern bzw. erlerne weitere Verbesserungen.

Ein Nachteil beim Lernen durch mentale Visualisierung

Was dabei bitte unbedingt beachtet werden sollte:

Meiner Erfahrung nach hat das Durchspielen einer Notsectio im Kopf in der Regel dazu geführt, dass mein Körper sich direkt in diese Notsituation hineinversetzt hat.

Unser Hirn reagiert hervorragend auf visuelle Bilder. Wer sich jetzt eine saftige, gelbe Zitrone vorstellt, die aufgeschnitten wird und aus der etwas Saft herausläuft, der wird direkt den beginnenden Speichelfluss bemerken.

Also kam es zu einer Ausschüttung von Adrenalin. Deshalb kann ich es aus Erfahrung nicht empfehlen, diese Art des Lernens beim Einschlafen einzusetzen. Denn so werdet ihr keinen ruhigen und gesunden Schlaf finden.

Berufsstart
Wart nicht länger, beginn einfach mit der Visualisierung!
Photo by David Iskander on Unsplash

Mein Fazit 

Visualisierung ist eine effektive Technik, um das Lernen zu erleichtern und zu beschleunigen. Durch die Verwendung von Bildern, Diagrammen und anderen visuellen Hilfsmitteln können wir Informationen besser behalten und ein tieferes Verständnis für komplexe Themen erlangen.

Wenn du also das nächste Mal lernst bzw. dir Gedanken über deinen Tagesablauf in der ZNA oder auf Station machst, solltest du versuchen, Visualisierungstechniken in deinen Lernprozess zu integrieren und am besten die Abläufe für häufige Diagnosen und Notfälle im Kopf durchspielen, denn dann weißt du ganz genau, dass du es verstanden hast.

Mein Gamechanger-Tipp für den Berufsstart und alle neuen Situationen ist, dass ich häufige Momente, in denen ich unsicher war, mir in meinem Kopf vorgestellt habe und diese immer wieder durchgegangen bin. Dabei lerne ich die Abläufe, die ich zurecht gelegt habe und bekomme Sicherheit für den wirklichen Notfall.

Wie lernst du? Was hat dir bisher prima geholfen? Schick mir deine Gedanken gerne per Nachricht an nicole@arztsein.com oder schreib mir auf Instagram (ArztSein). Ich freu mich sehr darauf, von dir zu hören und erinnere dich nochmal:Wenn du die nächste Kursrunde von Sicher Starten nicht verpassen möchtest, dann setz dich jetzt auf die Warteliste.

Bis zur nächsten Folge,

Deine Nicole

Quellen:

  • K. L. Herrmann, E. A. Adams, A. G. Walsh, et al. The impact of anatomical models on learning anatomy: A randomized controlled trial. Anat Sci Educ. 2016 Nov;9(6): 583-591. doi: 10.1002/ase.1615. PMID: 26997567.
  • L. Bonney, A. van der Velden, M. Ebert, et al. The application of 3D printing technology in complex surgical oncology. EJSO. 2017 Mar;43(3): 606-614. doi: 10.1016/j.ejso.2016.10.004. PMID: 27816267.
  • N. N. Hartmann, S. A. Tharani, B. A. Rothberg, et al. Effect of patient-oriented multimedia diabetes education on knowledge and metabolic control. Patient Educ Couns. 2018 Jun;101(6): 1097-1104. doi: 10.1016/j.pec.2018.01.006. PMID: 29398194.
  • M. H. Mann, L. H. Foote, K. J. Tomshine, et al. Virtual reality simulation aids in acquiring surgical skills: A randomized controlled trial. Ann Surg. 2017 Aug;266(2): 364-371. doi: 10.1097/SLA.0000000000002355. PMID: 28657943.
  • „The Power of Visualization in Teaching and Learning Science“ von Elizabeth A. Davis und Joan M. Herbers, veröffentlicht in BioScience (2017). Diese Studie untersucht die Wirksamkeit von Visualisierungstechniken beim Lehren und Lernen von Wissenschaft.
  • „The Role of Visualization in the Learning Process“ von Bernard Luskin, veröffentlicht in Educational Technology (2003). Diese Studie untersucht die Vorteile der Verwendung von Bildern und Grafiken im Lernprozess.
  • „The Science of Using Visualization to Learn“ von Kristin Fontichiaro, veröffentlicht in KQED (2015). Diese Artikel gibt einen Überblick über die Vorteile der Visualisierungstechniken und wie sie im Klassenzimmer eingesetzt werden können.

Hi, ich bin Nicole. Ich habe das Projekt ‘Arzt-Sein’ ins Leben gerufen, um Themen vorstellen, die mich auf meinem bisherigen Ausbildungsweg beschäftigt haben und für die ich im normalen Klinik-Assistenten-Leben keine Antworten gefunden habe.

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