Selbstkritik und Erwartungen – Warum Nachsicht mit uns selbst und der Gesellschaft entscheidend ist 

4. Februar 2024

Passend zum Jahresstart habe ich rekapituliert, was mir in 2023 auf Ebene meines ArztSeins erstmals richtig bewusst geworden ist. In diesem Beitrag erfährst du, welcher Wert bzw. welche Tugend mich im letzten Jahr in mehreren Punkten beschäftigt und bereichert hat – und mir die Möglichkeit eröffnet hat, Kolleg:innen und mir selbst menschlicher zu begegnen.

Mach’s dir also bequem und viel Freude beim Mitdenken – Legen wir los!

Nachsicht is key!

Nachsicht hat sich für mich als Lösung zu vielen Problemchen im Klinikalltag entpuppt. Das soll nicht abgedroschen klingen und ich erkläre am besten direkt anhand meiner Erfahrungen und Beispiele, wieso ich so begeistert von meiner Erkenntnis bin – ich kann dich bestimmt damit anstecken!

Ich glaube fest, dass etwas mehr Nachsicht uns in soooo vielen Bereichen im Klinikleben helfen würde, menschlicher miteinander zu sein. Das heißt nicht, dass ich mir wünsche, dass wir Konflikten aus dem Weg gehen – ganz im Gegenteil! Konflikte sind wichtig und notwendig. Und sie wären so viel einfacher zu führen, wenn wir miteinander mehr Nachsicht empfinden würden.
Denn die Definition von Nachsicht laut Google ist: “Verzeihendes Verständnis für die Schwächen eines anderen” (und einem selbst 😉)

Es braucht nicht immer Empathie – Nachsicht und eine Spur Verständnis können schon reichen, einen guten Dialog mit verschiedenen Meinungen auf Augenhöhe zu führen.

In welchen Bereichen hat mir Nachsicht denn nun die Augen geöffnet?

1. Nachsicht mit mir selbst

Es gab ein großes Thema in 2023 für mich: Ich hatte das Gefühl, dass ich meinen eigenen Anforderungen nicht gerecht werde.

  • Da waren zum Beispiel Ziele, die ich mir gesetzt habe, die ich nicht erfüllt habe – ohne, dass ich gesehen habe, was ich stattdessen alles gemacht und gelernt habe.
  • Oder der Klassiker: Wenn ich mich über Dinge ärgere, die ich nicht ändern kann und mich dann noch mehr ärgere, weil ich es doch “schon lange” besser wissen müsste.
  • Oder ein ganz großes Thema für mich in 2023: Wenn ich glaube, genau zu wissen, wie ich führen möchte und wie ich im Klinikalltag sein möchte und es dann doch nicht klappt.
  • Und zuletzt: Wenn ich mich doch dazu entscheide “mit dem System” zu gehen und nicht meine Werte zu vertreten, weil es in diesem einen Moment für mich einfach “einfacher” ist. Zum Beispiel doch krank zur Arbeit zu gehen, anstatt die Krankmeldung auszusitzen, wohl wissend, dass der Personalmangel die Arbeitsbelastung durch den Ausfall auf viel zu wenig Schultern verteilen wird. In solchen Momenten kann es sich auch mal schlicht einfacher anfühlen, krank zu arbeiten, obwohl man sich sonst immer krank meldet und nicht zur Arbeit erscheint. Deshalb mein wichtigster Aha-Moment: Es geht um den gesamten Weg, bestehend aus vielen kleinen Schritten und auch wenn ein Schritt mal ein Rückschritt ist, bedeutet das nicht, dass man stehen bleibt oder gar rückwärts geht – ganz im Gegenteil: Die Summe deiner Schritte ist entscheidend!
Niemand kann dich besser sehen als du selbst
Photo by abigail low on Unsplash

2. Nachsicht mit Kolleg:innen und Vorgesetzten

Ein weiteres großes Gedankenfeld war die Erwartungshaltung, die ich meinen Kolleg:innen entgegen gebracht habe:

  • Wenn zum Beispiel auf andere Art und Weise gearbeitet wird und meine hohen Ansprüche nicht übertragen werden sollten. Ich wollte loslassen, was ich nicht beeinflussen kann und mir selbst und meinem Perfektionismus Nachsicht geben oder anders gesagt mit den Worten meines Partners: “Es kann vieles egaler werden – die Welt (und die Klinik) dreht sich immer weiter”
  • Und auch meinen Vorgesetzten und anderen Kolleg:innen gegenüber, wenn sie unter Druck stehen. Denn die Bedürfnisse von Vorgesetzten oder generell anderen Kolleg:innen werden auch nicht immer bzw. meistens nicht erfüllt (Ja, anderen geht es auch so!). Und trotzdem habe ich manchmal erwartet, dass sie immer ihre Arbeit ihrer Position entsprechend erfüllen. Großes Learning: Auch hier darf Nachsicht eingeräumt werden, denn wir sind alle Menschen, die in dem gleichen System unter hohem Arbeits- und Leistungsdruck zusammenkommen! Es sind doch die gleichen Bedingungen mit jeweils unterschiedlichem Ausmaß an Verantwortung, in denen wir alle zusammen arbeiten – seien es Studis, AiW, OÄ oder CÄ.

3. Nachsicht in der Erwartungshaltung an uns Ärzt:innen

Diesen Abschnitt betrachte ich als ein Gedankenspiel mit spannenden Fragen anstatt als Learning aus 2023. Ich habe mich im letzten Jahr zunehmend gefragt: Können wir wirklich die Erwartungshaltung, die an uns Ärztinnen und Ärzte herangetragen wird, erfüllen? Um mal ganz plakativ ein paar Beispiele zu nennen, die man nicht nur in den sozialen Medien liest, sondern auch von unseren Patient:innen hört: 

  • “Ärzte und Ärztinnen müssen immer verfügbar sein und dürfen sich nicht über Arbeitszeiten beklagen, sie verdienen genug Geld und schließlich sucht man sich den Beruf selbst aus – es gehöre eben dazu und Arzt sein sei schließlich eine Berufung”
  • “Ärzte und Ärztinnen müssen immer empathisch und freundlich sein, in Trauer und bei schlechten Nachrichten immer richtig reagieren, alles verständlich und auf Augenhöhe erklären, gleichzeitig führen, Expertise und Professionalität vermitteln, dürfen natürlich keine Fehler machen, alle Probleme lösen – auf der einen Seite nicht gleich eine Tablette rezeptieren und auf der anderen Seite bitte einfach eine Tablette rezeptieren”, usw.

Doch können wir als Menschen diese Erwartungshaltung erfüllen? Können wir es uns auferlegen und von uns erwarten, dass wir, nachdem wir eine schlechte Nachricht menschlich und empathisch überbracht haben, direkt mit dem nächsten “Fall” weiter machen? Ebenso empathisch, menschlich und professionell? 

Ich glaube, dass diese Anforderungen, die wir und die Gesellschaft an uns stellen, nicht zu erfüllen sind – es gibt Ausnahmen, die mit viel Berufserfahrung und Resilienz gelernt haben, ihrer Berufung nachzugehen. 

Ich denke, dass wir nachsichtig mit uns sein dürfen, wenn wir nicht die Erwartungshaltung unserer Patient:innen erfüllen – denn, was erwartet wird, ist meiner Meinung nach nicht machbar. Somit wünsche ich mir von unseren Patient:innen und der Gesellschaft genauso viel Menschlichkeit und Nachsicht, wie es von uns erwartet wird.

Damit überlasse ich dich nun deinen Gedanken zu dieser Podcastfolge und bedanke mich bei dir, dass du bis zum Ende dabei warst!

Nicht alle Erwartungen sollen erfüllt werden
Photo by Erik Mclean on Unsplash

Hi, ich bin Nicole. Ich habe das Projekt ‘Arzt-Sein’ ins Leben gerufen, um Themen vorstellen, die mich auf meinem bisherigen Ausbildungsweg beschäftigt haben und für die ich im normalen Klinik-Assistenten-Leben keine Antworten gefunden habe.

Podcast.

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