Wann werden wir Ärzte und Ärztinnen zufrieden und glücklich sein?

4. Dezember 2022

Dieser Beitrag ist mir insbesondere zu dieser Jahreszeit ein wichtiges Anliegen, denn es soll darum gehen, wie wir unserem Glück in der Zukunft nachjagen oder wie Laura Malina Seiler sagen würde: Wir sind der Esel, der der Möhre nachläuft, ohne sie zu erreichen. Wann werden wir Ärzt*innen endlich zufrieden sein?

Deshalb habe ich nach langer Zeit wieder eine Geschichte zum Nachdenken und Reflektieren herausgesucht,  und stelle die Frage: Wann werden wir Ärzte und Ärztinnen zufrieden und glücklich sein?
Mein Vorschlag: Hol dir deine Kuscheldecke, eine große Tasse Tee und deine Kopfhörer und lehn dich für einen Moment in Ruhe zurück. Lass die Geschichte und meine Impulse zur Reflexion auf dich wirken. Vielleicht möchtest du auch etwas schreiben. Vielleicht bewegt dich der Beitrag und du nimmst einen Teil mit in deinen Alltag. Das würde mich sehr freuen.

Über vermeintlich zufriedene Ärzte und Ärztinnen

Kennst du diese Gedanken:

  • “Wenn ich Dienste mache, verdiene ich etwas mehr, dann kann ich die Reisen machen, die ich mir immer gewünscht habe und werde glücklich sein.”
  • “Wenn ich endlich die nächste Rotation bekomme oder endlich in den OP komme, dann geht’s mit meiner Ausbildung los. Dann lerne ich etwas und dann bin ich endlich glücklich und zufrieden in meinem Beruf!” oder
  • “Wenn ich weniger Wochenenddienste habe, dann habe ich mehr Zeit, wie alle anderen Nichtmediziner*innen, und dann werde ich glücklich sein, weil ich Zeit für meine Freunde und Hobbies etc. habe.”
  • “Wenn ich die Facharztprüfung hinter mir habe, dann werde ich endlich die Ärztin bzw. der Arzt sein, die ich immer sein wollte. Dann werde ich glücklich im Beruf sein, weil ich endlich in die Praxis gehen kann.”
  • “Wenn ich die Liebe meines Lebens gefunden habe und wir Kinder bekommen, dann werde ich endlich glücklich sein.”

Die Liste lässt sich sicherlich noch gaaanz lang weiterführen. Und egal, was uns unser Glück bescheren soll, wir eifern ihm nach und sehen uns glücklich durch z.B. 

  • das Erreichen eines beruflichen Ziels
  • Liebe
  • Konsum oder 
  • vermeintlich mehr Geld bzw. Zeit.

An genau dieser Stelle setzt die Geschichte an, die ich im Buch “Die Kuh, die weinte” von  Ajahn Brahm gefunden und für dich heute mitgebracht habe.

Wir verbringen eine ganze Menge Zeit mit Warten auf das große Glück und vergessen dabei oft den Moment zu genießen.
Photo by Marco López on Unsplash

“Morgen werde ich glücklich sein”

Als Vierzehnjähriger stand ich in meiner Londoner Schule kurz vor der Mittleren Reife. Eltern und Lehrer empfahlen mir, das Fußballspiel an den Abenden und Wochenenden ausfallen zu lassen und stattdessen eifrig zu Hause zu lernen. Sie erklärten, wie wichtig die mittlere Reife sei, und dass ich glücklich sein würde, wenn ich sie geschafft hätte.

Ich folgte ihrem Rat und bestand die Prüfung. Aber das machte mich nicht glücklich. Dieser Erfolg brachte es nämlich mit sich, dass ich noch zwei weitere Jahre zu ackern hatte, damit ich das Abitur bestand. Eltern und Lehrer empfahlen mir, abends und an den Wochenenden nicht mehr auszugehen, mich nicht mit Mädchen zu treffen, sondern fleißig zu Hause zu lernen. Sie erläuterten, wie wichtig das Abitur sei, und dass es eine Fahrkarte zum Glück sei.

Wieder folgte ich ihrem Rat. Ich legte ein gutes Abitur ab, aber es machte mich nicht glücklich. Denn jetzt fing das Studium erst richtig an. Schließlich sollte ich innerhalb von drei Jahren meinen Universitätsabschluss machen. Meine Mutter (da war mein Vater schon tot) und meine Lehrer rieten mir, Bars und Partys fern zu bleiben und mich stattdessen ausgiebig meinen Fächern zu widmen. Sie sagten mir, wie wichtig ein Studienabschluss wäre. Was würde ich glücklich sein, wenn ich ihn erst geschafft hätte!

Inzwischen war ich etwas misstrauisch geworden.

Ich beobachtete meine älteren Freunde, die fleißig studiert, ihren Abschluss geschafft und ihren ersten Job bekommen hatten. Sie arbeiteten schwerer als je zuvor. Schließlich wollten sie genug Geld verdienen, um sich etwas Schönes leisten zu können, beispielsweise ein Auto zu kaufen. Sie sagten mir: “Was werde ich glücklich sein, wenn ich endlich mein Auto habe!”

Doch nach dem Kauf des ersten Autos waren sie immer noch nicht glücklich. Sie mussten weiter schuften, um sich noch etwas anderes zu kaufen, um dem Glück auf die Sprünge zu helfen. Oder sie verwickelten sich auf der Suche nach der großen Liebe in allerlei Affären. Sie sagten: “Wenn ich erst verheiratet bin und mich häuslich niedergelassen habe, werde ich glücklich sein.”

Sie heirateten und waren immer noch nicht glücklich, weil sie noch schwerer arbeiteten und sogar Nebenjobs annehmen mussten, um sich die Anzahlung auf eine Wohnung oder ein kleines Haus leisten zu können. Sie sagten mir: “Wenn wir erstmal unser eigenes Haus gekauft haben, werden wir richtig glücklich sein.”

Leider mussten sie erst die Hypothek abzahlen, was sie nicht gerade glücklich machte. Außerdem hatten sie inzwischen eine Familie gegründet. Sie bekamen Kinder, von denen sie nachts geweckt wurden, die ein großes Loch in ihre Ersparnisse gruben und ihnen unsäglich viel Sorge und Mühe abverlangten. Jetzt mussten sie noch zwanzig Jahre warten, ehe sie tun konnten, was sie selbst wollten. Sie sagten mir: “Wenn ich mich erst zur Ruhe gesetzt habe, werde ich glücklich sein.”

Noch vor dem Ruhestand, aber ganz gewiss danach fangen sie an gläubig zu werden und zur Kirche zu gehen. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie viele alte Leute zu den Gottesdiensten kommen? Ich fragte sie, weshalb sie plötzlich zur Kirche gingen. Man antwortete mir: “Weil ich nach meinem Tod glücklich sein möchte!”

Für all diejenigen, die glauben, dass sie glücklich sein werden, wenn sie irgendetwas erreicht haben, ist das Glück nur ein Zukunftstraum. Wie ein Regenbogen, der zwei oder drei Schritte ferner liegt, aber für alle Zeiten unerreichbar ist. Diese Menschen werden nie im Leben oder danach glücklich sein.

„Viele Menschen versäumen das kleine Glück, während sie auf das Große vergebens warten.“

– Pearl S. Buck

Was braucht es wirklich zum Glück und sind wir dann zufriedene Ärzte und Ärztinnen?

Was braucht es wirklich, damit du glücklich sein kannst? Willst du dein Glück an die Zukunft binden, an ein Ereignis, einen Zustand oder eine andere Person? Was hindert dich, im Hier und Jetzt glücklich zu sein?

Was ist Glück eigentlich? Was ist Zufriedenheit? Was bedeutet Dankbarkeit?

Was macht dich wirklich glücklich? Was gibt dir Zufriedenheit? Wofür bist du aus tiefstem Herzen dankbar?

  • Ist es wirklich so, dass du bisher nichts gelernt hast und nur die nächste Rotation oder der Einsatz im OP dir dein Glück möglich macht? Oder der nächste Urlaub? Die große Liebe?
  • Oder findest du bereits nicht jetzt schon genau die kleinen Dinge, die dich glücklich machen? Wenn du Anerkennung von der Pflege bekommst, weil du die Visite gerockt hast – was vor ein paar Wochen noch Wunschdenken für dich war? Macht dich das nicht auch glücklich? Oder übersiehst du dein Glück, weil du deiner Möhre nach rennst und schon 10 Schritte und Ecken weiter bist?
  • Oder wie stets mit dem letzten aufrichtigen Dankeschön einer Patient*in. Hast du es mit ganzem Herzen angenommen und gefühlt oder kurz abgewunken – gehört ja schließlich zu  deiner Arbeit. Warst du nicht für deine Patient*in genau die Ärzt*in bzw. der Arzt, die du immer sein wolltest und hast es selbst nur nicht mitbekommen?
Schätze Momente, dein Lächeln, dein Gedankengang und deinen Fortschritt. Jeden Tag.
Photo by Priscilla Du Preez on Unsplash

Ich lasse dich nun an dieser Stelle mit den aufgeworfenen Fragen nach Glück, Zufriedenheit und Dankbarkeit zurück und wünsche dir von ganzem Herzen, dass du nicht erst mit einem neuen Vorsatz im neuen Jahr 2023 deinen ersten glücklichen Schritt machst (denn dann würdest du dir erst im Neuen Jahr erlauben, die Möhre endlich zu essen! 🙂 ).

Ich wünsche dir, dass du genau jetzt einen Moment des Glücks oder der Dankbarkeit erleben kannst und dir genau das jetzt erlaubst und nicht erst, morgen oder im Neuen Jahr oder wenn du endlich in der Praxis angekommen bist.

Schreib mir deine Gedanken zur Geschichte per Mail an nicole@arztsein.com oder schreib mir direkt auf Instagram (ArztSein). Ich freue mich sehr über jede Nachricht und übrigens auch über jede 5 Sterne Bewertung, die ihr mir bei iTunes oder Spotify hinterlassen könnt.

Und wenn dir der Beitrag gut gefallen hat und du ähnliche Geschichten lesen möchtest, dann kann ich dir folgende wärmstens empfehlen:

Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ und „Der Kreis der Neunundneunzig„.

Bis ganz bald, 
Eure Nicole

Quellen

Buch: “Die Kuh, die weinte” – Ajahn Brahm

Hi, ich bin Nicole. Ich habe das Projekt ‘Arzt-Sein’ ins Leben gerufen, um Themen vorstellen, die mich auf meinem bisherigen Ausbildungsweg beschäftigt haben und für die ich im normalen Klinik-Assistenten-Leben keine Antworten gefunden habe.

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