Der Kreis der Neunundneunzig

3. Januar 2021

Da meine letzte Geschichte sehr positive Rückmeldungen bekommen hat, habe ich in diesem Beitrag  wieder etwas zum Nachdenken mitgebracht. Die heutige Geschichte hat mich sehr berührt – es geht darum, die eigene Unzufriedenheit zu reflektieren und dabei Wahrnehmung für das Wesentliche zu schärfen sowie nachhaltige Dankbarkeit zu stärken. Ich bin gespannt, wie sie auf euch wirkt und wie sie euch gefällt.

Mein Hintergrund zu der Geschichte ist Folgender: Vor einiger Zeit war ich recht unzufrieden mit meiner Arbeitssituation. Ich hatte mich in meine Unzufriedenheit regelrecht reingesteigert. Denn für mich ist vor Kurzem mein letztes Assistentenjahr angebrochen und mir fehlte für meine Ausbildungszeit die feste Rotation im OP. Nachdem erst COVID die Planungen in unserem Team über den Haufen geworfen hat, wurde dann aus diversen Gründen auch mein OP-Einsatz weiter nach hinten geschoben und ich bekam die Position des Springers.

Und ich wollte die OP-Rotation so gerne. Für mich hat es sich so angefühlt, als wäre meine Ausbildung ausgesetzt und es gäbe für mich keinen richtigen Platz im Team. Ich verlor den Fokus und konnte nicht mehr sehen, was ich alles an Positivem an meiner Stelle hatte. Denn eigentlich ist meine Abteilung schon sehr gut aufgestellt, was die Arbeitsbedingungen für die Assistent*innen angeht. Zum Beispiel werden Überstunden bis 18 Uhr festgehalten und können abgebaut werden, wir müssen keine 24-Stunden-Dienste machen und arbeiten bei guter Besetzung in der Regel nur ein Wochenende im Monat.

Nur leider habe ich diese positiven Teile meiner Stelle nicht mehr wahrgenommen. Meine Gedanken haben sich ausschließlich um das gedreht, was ich nicht bekommen habe und wofür mir die Zeit davon lief – meine nächste Rotation und Ausbildung. Vielleicht kennt ihr das ja auch. Die Gedanken und der Unmut darüber, was ihr alles nicht habt? Die Unzufriedenheit, die daraus entsteht?

Wenn ja, dann ist die nächste Geschichte genau richtig für euch – und sie war es auch für mich!

Es war einmal ein sehr unglücklicher König, der hatte einen Diener, der wie alle Diener von unglücklichen Königen sehr glücklich war. Jeden Morgen weckte er den König, brachte ihm das Frühstück und summte dabei fröhliche Spielmannslieder. In seinem Gesicht zeichnete sich ein breites Lächeln ab und seine Ausstrahlung war stets heiter und positiv.

Eines Tages schickte der König nach ihm.

“Page”, sagte er. “Was ist dein Geheimnis?”

“Mein Geheimnis, Majestät?”

“Was ist das Geheimnis deiner Fröhlichkeit?”

“Da gibt es kein Geheimnis, Majestät.”

“Lüg mich nicht an, Page. Ich habe schon Köpfe abschlagen lassen für weniger als eine Lüge.”

“Ich belüge Euch nicht, Majestät. Ich habe kein Geheimnis.”

“Warum bist du immer fröhlich und glücklich? Hm, sag mir, warum?”

“Herr, ich habe keinen Grund, traurig zu sein. Eure Majestät erweist mir die Ehre, Euch dienen zu können. Ich lebe mit meinem Weib und meinen Kindern in einem Haus, das uns der Hof zugeteilt hat. Man kleidet und nährt uns und manchmal, Majestät, gebt ihr mir die ein oder andere Münze, damit ich mir etwas Besonderes leisten kann. Wie sollte ich da nicht glücklich sein?”

“Wenn du mir nicht gleich dein Geheimnis verrätst, lass ich dich enthaupten”, sagte der König. “Niemand kann aus solchen Gründen glücklich sein.”

“Aber Majestät, es gibt kein Geheimnis. Wie gern wäre ich Euch zu Gefallen, aber ich verheimliche nichts.”

“Geh, bevor ich den Henker rufen lasse!”

Der Diener lächelte, macht eine Verbeugung und verließ den Raum. Der König war völlig außer sich. Er konnte sich einfach nicht erklären, wie dieser Page so glücklich sein konnte, der sich als Leibeigener verdingen musste, alte Kleidung auftrug und sich von dem ernährte, was von der königlichen Tafel übrigblieb. Als er sich beruhigt hatte, rief er den weisesten seiner Berater zu sich und berichtete ihm von dem Gespräch, das er an diesem Morgen geführt hatte.

“Warum ist dieser Mensch glücklich?”

“Majestät, er befindet sich außerhalb des Kreises?”

“Außerhalb des Kreises?”

“So ist es.”

“Und das macht ihn glücklich?”

“Nein, mein Herr. Das ist das, was ihn nicht unglücklich sein lässt.”

“Begreife ich das recht: Im Kreis zu sein macht einen unglücklich?”

“So ist es.”

“Und er ist es nicht.”

“So ist es.”

“Und wie ist er da wieder rausgekommen?”

“Er ist niemals eingetreten.”

“Was ist das für ein Kreis?”

“Der Kreis der Neunundneunzig.”

“Ich verstehe nicht.”

“Das kann ich nur an einem praktischen Beispiel erklären.”

“Wie das?”

“Lass deinen Pagen in den Kreis eintreten.”

“Ja, zwingen wir ihn zum Eintritt.”

“Nein, Majestät. Niemand kann dazu gezwungen werden in den Kreis einzutreten.”

“Also muss man ihn überlisten.”

“Das ist nicht nötig, Majestät. Wenn wir ihm die Möglichkeit dazu geben, wird er ganz von selbst eintreten.”

“Aber er merkt nicht, dass er sich dadurch in einen unglücklichen Menschen verwandelt?”

“Doch, er wird es merken.”

“Dann wird er nicht eintreten.”

“Er kann gar nicht anders.”

“Du behauptest, er merkt, wie unglücklich es ihn macht, in diesen albernen Kreis einzutreten und trotzdem tut er es und es gibt keinen Weg zurück?”

“So ist es, Majestät. Bist du bereit, einen ausgezeichneten Diener zu verlieren, um die Natur dieses Kreises zu begreifen?”

“Ja, ich bin bereit.”

“Gut. Heute Nacht werde ich kommen und dich abholen. Du musst einen Lederbeutel mit neunundneunzig Goldstücken bereithalten. Neunundneunzig, keins mehr, keins weniger.”

“Was noch? Soll ich meine Leibwächter mitnehmen für den Fall, dass…?”

“Nur den Lederbeutel. Bis heute Nacht, Majestät.”

“Bis heute Nacht.”

Und so geschah es. In dieser Nacht holte der Weise den König ab. Gemeinsam verließen sie unerkannt den Hof und versteckten sich in der Nähe des Hauses des Pagen. Dort warteten sie auf den Tagesanbruch. Im Haus wurde die erste Kerze angezündet. Der Weise steckte einen Zettel in den Beutel, auf dem stand:

“Dieser Schatz gehört Dir. Es ist die Belohnung dafür, dass Du ein guter Mensch bist. Genieße ihn und sag niemandem, wie Du an ihn gelangt bist.”

Dann band er den Beutel an die Haustür des Dieners, klopfte und versteckte sich wieder. Der Page kam heraus und von ihrem Versteck im Gebüsch aus beobachteten der Weise und der König das weitere Geschehen. Der Bedienstete öffnete den Beutel, las die Nachricht, schüttelte den Sack und als er das metallische Geräusch aus seinem Inneren vernahm, zuckte er zusammen, drückte den Schatz an seine Brust, sah sich um, ob ihn auch niemand beobachtete und ging ins Haus zurück. Von draußen hörte man, wie der Diener die Tür verriegelte und so näherten die Spione sich dem Fenster, um die Szene zu beobachten.

Der Diener hatte alles, was sich auf dem Tisch befand mit einem Handstreich auf den Boden gewischt, bis auf eine Kerze. Er hatte sich hingesetzt, den Inhalt des Beutels auf den Tisch geleert und traute seinen Augen kaum. Es war ein Berg an Goldmünzen! Er, der in seinem ganzen Leben auch nicht eine einzige verdient hatte, besaß nun einen ganzen Berg davon. Er berührte und er häufte sie. Er streichelte sie und betrachtete sie im Widerschein der Kerze. Er strich sie zusammen und verteilte sie wieder auf dem Tisch, um sie danach zu Säulen aufzustapeln.

So vergnügte er sich mit seinem Schatz bis er schließlich begann, Häuflein zu zehn Münzen zu machen. Ein Zehnerhaufen, zwei Zehnerhaufen, drei Zehnerhaufen, vier, fünf, sechs …  Er zählte sie zusammen: zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig … Bis zum letzten Häuflein, das nur aus neun Münzen bestand! Zunächst suchten seine Augen den Tisch ab, in der Hoffnung, die fehlende Münze zu finden. Dann schaute er auf den Boden und schließlich in den Beutel.

“Das ist unmöglich.” dachte er. Er schob den letzten Haufen neben die anderen und tatsächlich, er war kleiner.

“Man hat mich beraubt”, schrie er. “Man hat mich beraubt! Das ist Diebstahl!”

Wieder schweifte sein Blick über den Tisch, über den Boden, in den Beutel, in seine Kleider, in seine Taschen, unter die Möbel … Aber die gesuchte Münze blieb verschollen. Wie um ihn zu foppen, funkelte auf dem Tisch ein Haufen Goldstücke und erinnerte ihn daran, dass es nur neunundneunzig waren. Nur neunundneunzig.

“Neunundneunzig Münzen. Das ist eine Menge Geld”, dachte er. “Aber ein Goldstück fehlt. Neunundneunzig ist keine runde Zahl. Hundert ist rund, doch nicht neunundneunzig.”

Der König und sein Ratgeber spähten zum Fenster hinein. Das Gesicht des Pagen hatte sich verändert. Seine Stirn lag in Falten, die Miene war angespannt. Die Augen hatte er zu Schlitzen gepresst und um seinen Mund spielte ein verzerrtes Lächeln. Der Diener steckte die Münzen in den Beutel zurück, vergewisserte sich, dass ihn niemand im Haus beobachtete und versteckte den Beutel zwischen der Wäsche. Dann nahm er Papier und Feder und setzte sich an den Tisch, um eine Rechnung aufzustellen. Wie lange musste er sparen, um Goldstück Nummer hundert zu bekommen?

Der Diener führte Selbstgespräche. Er war bereit, hart dafür zu arbeiten. Danach würde er womöglich niemals wieder etwas tun müssen. Mit hundert Goldstücken konnte man aufhören zu arbeiten. Mit hundert Goldstücken ist man reich. Mit hundert Goldstücken kann man ein ruhiges Leben führen. Er beendete seine Berechnungen. Wenn er hart arbeitete und sein Gehalt und etwaige Trinkgelder sparte, konnte er in elf oder zwölf Jahren genügend für ein weiteres Goldstück beisammen haben.

“Zwölf Jahre sind eine lange Zeit.”, dachte er.

Vielleicht konnte er seine Frau überreden, sich für eine Weile im Dorf zu verdingen. Und er arbeitete schließlich nur bis um fünf Uhr im Palast. Nachts konnte er noch etwas hinzuverdienen. Er überlegte: Wenn man seine Arbeit im Dorf und die seiner Ehefrau zusammen rechnete, konnten sie in sieben Jahren das Geld beieinander haben. Das war zu lang.

Vielleicht konnte er das Essen, das ihnen übrigblieb, ins Dorf bringen und es für ein paar Münzen verkaufen. Je weniger sie also essen würden, desto mehr könnten sie verdienen. Verdienen, verdienen. Es würde warm werden. Wozu brauchten sie so viel Winterkleidung? Wozu brauchte man mehr als ein Paar Hosen? Es war ein Opfer. Aber in vier Opferjahren hätten sie Goldstück Nummer hundert. Der König und der Weise kehrten in den Palast zurück.

Der Page war in den Kreis der Neunundneunzig eingetreten.

Während der kommenden zwei Monate verfolgte der Bedienstete seinen Plan genau, wie er ihn in jener Nacht entworfen hatte. Eines Morgens klopfte er übel gelaunt und gereizt an die Tür des königlichen Schlafzimmers.

“Was ist denn mit dir los?” fragte der König höflich.

“Mit mir? Gar nichts.”

“Früher hast du immer gesungen und gelacht.”

“Ich tue meine Arbeit, oder etwa nicht? Was wünschen Ihre Majestät? Soll ich Euch auch noch Hofnarr und Barde sein?”

Es dauerte nicht mehr allzu lang, da entließ der König den Diener. Er fand es so unangenehm, einen Pagen zu haben, der immer schlecht gelaunt war.

Diese Geschichte habe ich in dem Buch “Komm, ich erzähl dir eine Geschichte” von Jorge Bucay (Fischer, 1. Edition, 1. September 2011) gefunden.

Sie wirft schnell Fragen auf, wie:

  • Was ist für mich Glück?
  • Was bedeutet Zufriedenheit?
  • Wofür darf ich dankbar sein?

Diese Geschichte hat mich insofern sehr berührt, weil ich selbst der Diener war, als ich mit meiner Unzufriedenheit das 100. Goldstück im OP gesucht – und nicht gefunden – habe. Doch glücklicherweise habe ich für mich einen Weg zurück zu Dankbarkeit und Zufriedenheit gefunden.

Jedoch haben sich meine Unzufriedenheit bzw. meine Grübelei über meine Wünsche und Erwartungen leider nicht direkt von selbst aufgelöst. Mir wurde von meinen liebsten Menschen ein Spiegel vorgehalten und als ich eines Abends bei einem eigentlich schönen Restaurantbesuch nur am Schimpfen war, ist auch bei mir der Groschen gefallen.

Ich wollte etwas ändern. Nicht: ich musste etwas ändern. Sondern: ich wollte

Weil ich mir mit meinen negativ-bewertenden Gedanken meine Tage kaputt gemacht habe. Also habe ich mir die entscheidenden Fragen gestellt:

  • Was kann mir eine andere Abteilung bieten?
  • Was bietet mir mein aktueller Arbeitsplatz?
  • Was vermisse bzw. brauche ich wirklich?
  • Trete ich wirklich auf der Stelle?

Und nachdem ich hart mit mir selbst in den Dialog gegangen bin, habe ich erkannt, dass es momentan für mich keinen besseren Platz gibt, als den, den ich habe. Dass er so viele Vorteile bietet, die mir keine andere Stelle bieten kann. Und ich habe mich entschieden. Damit kam für mich die große Ruhe. Und ich habe gelernt. Damit habe ich mich sensibilisiert für das nächste Mal ( 😉 ).

Bucay hinterfragt in seinem Buch in Zusammenhang mit der Geschichte “Der Kreis der Neunundneunzig” ebenfalls sehr schön. Denn er wirft die Frage auf, ob wir nicht einer vorgehaltenen Möhre hinterherlaufen, damit wir weiter “den Karren ziehen, müde, schlecht gelaunt, unglücklich und resigniert.”

Es macht also durchaus Sinn, manchmal auszubrechen, manchmal den Spiegel vorgehalten zu bekommen. 

Sonst verpassen wir den schönsten Teil unseres Lebens, nämlich das Leben. Doch er macht auch den berechtigten Einwand, dass wir uns trotzdem höhere Ziele setzen dürfen und uns nicht mit allem zufrieden geben müssen. “Denn akzeptieren ist eine Sache und resignieren eine andere.”

Heute habe ich mich aktiv und bewusst dazu entschieden mit dem, was ich habe, zufrieden zu sein und es zu schätzen. In der Vergangenheit habe ich bereits die Stelle gewechselt. Einen weiteren Gedanken möchte ich zum Ende noch los werden. Ich bin im Gespräch über diese Geschichte darauf gestoßen worden.

Es geht dabei um die Frage:  Wieso leben wir für unsere Arbeit statt für unser Leben zu arbeiten?

In der privilegierten Situationen einen sicheren Job in einem sicheren Land zu haben, sind wir – unseren – zum Teil Eltern mindestens aber – unseren (Ur-) Großeltern so viele Schritte voraus zu einem Leben, von denen sie nur träumen konnten. 

Und doch machen wir es uns so schwer, indem wir einem einzigen Goldstück hinterher rennen, statt die neunundneunzig Goldstücke, die wir besitzen, zu würdigen und zu schätzen und zu leben.

„Wie viele Dinge würden sich ändern, wenn wir unsere Schätze so genießen könnten, wie sie sind.“

– Der Dicke aus “Komm, ich erzähl dir eine Geschichte” von Jorge Bucay (Fischer, 1. Edition, 1. September 2011)

Mit diesem passenden Satz zum Schluss möchte ich den Beitrag beenden und bin ganz gespannt auf eure Rückmeldungen und Gedanken zur heutigen Geschichte.

Schreibt mir eure Ideen an nicole@arztsein.com oder kommt mit mir auf Instagram in Kontakt (ArztSein). 

Wenn euch mein Podcast gefällt, dann habt ihr die Möglichkeit mich zu unterstützen mit einer kurzen 5 Sterne Bewertung bei iTunes (Danke von Herzen :-)).

Ich bin gespannt auf eure Nachrichten und wünsche euch eine gute Woche!

Bis ganz bald wieder, Eure Nicole.

Hi, ich bin Nicole. Ich habe das Projekt ‘Arzt-Sein’ ins Leben gerufen, um Themen vorstellen, die mich auf meinem bisherigen Ausbildungsweg beschäftigt haben und für die ich im normalen Klinik-Assistenten-Leben keine Antworten gefunden habe.

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