Krank und trotzdem zur Arbeit – Wenn Kranke Kranken helfen und das Team nicht im Stich lassen wollen

2. Oktober 2022

Mich hat es vor kurzem richtig erwischt: Ich war eine lange Woche krank und musste meine Dienste am Feiertagswochenende abgeben. Damit hat mich nicht nur meine Grippe gequält, sondern auch mein Gewissen, dass mir eingeredet hat, dass ich meine KollegInnen im Stich gelassen hätte.

In meiner Not habe ich eine Umfrage in der Instagram-Community gemacht und festgestellt, dass ich damit alles andere als alleine bin. Außerdem gibt es auch Daten dazu, die belegen, dass junge ÄrztInnen häufig bei Krankheit trotzdem zur Arbeit erscheinen. Die Inhalte habe ich nun zusammengefasst – und mein Fazit daraus gezogen!

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Meine Erlebnisse

Wir kennen es alle: das bekannte Gefühl, wenn wieder einmal ein grippaler Infekt aufzieht und die Stimme in unserem Kopf, die sich sofort meldet mit: “Oh, hoffentlich wird das jetzt keine große Sache. Am Wochenende habe ich Doppeldienst, das ist morgen, da MUSS ich fit sein.”

Genau so bin ich an einem Wochentag wach geworden. Das war in meinem zweiten Jahr als Assistenzärztin. Damals habe ich noch 24-Stunden-Dienste gemacht und wie sollte es anders sein: an dem Tag hatte ich Dienst.

Also habe ich eine Ibu genommen, mir viel zu trinken eingepackt und bin über die Hebammen-Sprechstunde zur Akupunktur (Ich wollte nichts unversucht lassen, die anflutende Erkältung abzuwenden). So bin ich mit “etwas Halskratzen”, wie ich es mir eingeredet habe, in den Dienst gestartet.

Zwei Stunden später – ich hatte soeben eine Sectio mit einem meiner Oberärzte gemacht, mit dem ich mich sehr gut verstanden hatte – habe ich gemerkt, dass ich bereits fix und alle war. Mein Körper war verschwitzt, mir war schwindelig, mein Kopf brummte und mein Halskratzen war nun ein permanenter Schmerz. 

Tatsächlich war ich zu so viel Einsicht in der Lage, dass ich zu meinem Oberarzt gegangen bin und ihm sagte, dass ich die nächste Sectio nicht machen konnte. Ich müsse mich ausruhen, weil ich noch Dienst habe und würde mir körperlich weniger anstrengende Aufgaben suchen. Er runzelte die Stirn, ließ mich aber machen.

Die nächsten Stunden habe ich mich mit Ibu, Paracetamol, Halstabletten und allem, was sonst noch gut tut über Wasser gehalten und – wie meistens im Kreißsaal-Dienst – richtig viel gearbeitet.

Was war das Ende vom Lied?

Am nächsten Morgen hatte ich natürlich Fieber, einen ordentlichen Infekt der oberen Atemwege und habe die Übergabe mit einem Krächzen gemacht. Man hat mich fast nicht verstanden.

Mein Oberarzt kam nach der Übergabe auf mich zu und nahm mich zur Seite. Er sagte: “Nicole, ich verstehe deinen Ehrgeiz und deinen Wunsch, das Team  zu unterstützen. Aberwenn du mit Endokarditis auf der Intensivstation liegst, dann wird dich keiner aus dem Team dort besuchen oder sich gar bei dir bedanken, dass du weiter zur Arbeit gekommen bist.”

Diese Worte und die zwei Wochen andauernde Grippe, mit der ich meinen Körper ordentlich zugesetzt hatte, haben mich etwas zur Besinnung kommen lassen. Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht um mich selbst gekümmert habe und ich habe gedacht, dass ich durchhalten müsste, um das Team nicht im Stich zu lassen. Ich wollte nicht, dass jemand anderes einspringen musste und meine Arbeit liegen bleibt. Tatsächlich dachte ich auch, dass wenn ich richtig krank werde, mich schon jemand nach Hause schicken würde. Ich war ja noch junge Ärztin und dachte, dass ÄrztInnen Krankheiten erkennen und da meine KollegInnen alle ÄrztInnen sind, mich schon jemand ansprechen würde, wenn ich nicht arbeitsfähig sei. 

Bleibst du krank zu Hause? Legst dich ins Bett und erholst dich?
Photo by Kelly Sikkema on Unsplash

Eigentlich habe ich es vermieden Verantwortung für mich zu übernehmen und Konsequenzen zu erkennen und umzusetzen.

Tatsächlich ist es so: Bist du krank und kommst zur Arbeit, dann bist du auf dich gestellt. Niemand wird dich nach Hause schicken. Genauso wie niemand nach dir schaut, ob du deine Pause machst. Wir sind erwachsene Menschen mit Approbation und so kann man von uns erwarten, dass wir erkennen, wenn wir nicht arbeitsfähig sind. Ich habe am eigenen Leib gelernt: Niemand bedankt sich bei mir, wenn ich mich zur Arbeit schleppe und eigentlich nur körperlich anwesend bin.

Seitdem melde ich mich krank. Doch wie machen es KollegInnen? Ist es ein generelles Phänomen, dass ÄrztInnen krank zur Arbeit gehen wegen Personalmangel? Oder gibt es andere Gründe?

Krank und trotzdem zur Arbeit – Was sagt die Datenlage?

Zum Thema “Krank und trotzdem zur Arbeit” möchte ich auf eine Studie hinweisen und danach Zahlen eurer Antworten bei einer Instagram-Umfrage vorstellen. Aus irgendeinem Grund war ich überrascht – und doch wieder nicht. Für mich ist es ein systemisches Problem, dass wir alle krank arbeiten und das wir nur gemeinsam angehen können. Also legen wir los und gehen dafür den ersten Schritt!

1: Geben wir dem Kind einen Namen – “Präsentismus”

Dieses Verhalten hat tatsächlich einen Namen, wie ich nun gelernt habe: “Präsentismus”.

Präsentismus bedeutet, dass wir krank sind und trotzdem zur Arbeit erscheinen. Man übersetzt das Wort auch in “Arbeitszwang.” Der Begriff hatte ursprünglich jedoch eine andere Bedeutung, nämlich die “Verbesserung der Anwesenheit des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz.

„Heute gehen die Leute krank arbeiten, früher sind wir gesund daheim geblieben.“

– Unbekannt

2: Was gibt es für offizielle Daten?

Hier möchte ich Daten (Hier gehts zur Studie)  aus Australien, veröffentlicht im April 2020, zeigen. Konkret geht es um eine Umfrage über das Krankmelden unter jungen ÄrztInnen von Mitchell und  Coatsworth. Sie erhielten insgesamt 55 auswertbare Antworten.

Hauptaussagen und -gründe, die die junge ÄrztInnen vom Krankmelden abhalten:

  • 96% glauben, dass sie ihre KollegInnen mit der zusätzlichen Arbeit belasten
  • 86% antworteten, dass sie sich nicht vom Arbeitgeber unterstützt fühlen, wenn sie sich bei Krankheit krank melden
  • 72% gaben an, dass sie glaubten infektiös zu sein, als sie krank arbeiteten (d.h. sie sind trotz besseren Wissens zur Arbeit!)
  • 52% gaben an sich nicht krank genug zu fühlen, um sich krank zu melden, wenn man andere KollegInnen auch schon krank auf der Arbeit gesehen habe
  • 44% hatten Angst davor von KollegInnen beurteilt zu werden
  • 36% äußerten Angst, PatientInnen im Stich zu lassen
  • Mitchell und Kollege schreiben: “Additionally, broader cultural and social norms – such as an expectation that doctors are healthy and hardworking, and a commitment to caring for patients – widely promote presenteeism” und: “these findings contribute to the poor self-care and health behaviours commonly exhibited by doctors.“

Weitere Aussagen, die Mitchell und Kollege in der Umfrage sammelten:

  • “Often does not have anyone to cover which makes me really reluctant to call in sick as it will burden my team mates.”
  • “As a junior doctor always working in understaffed environments the professional guilt of not working is strong.”
  • “Unclear about the process for calling in sick, particularly on weekends”

Und der wohl wichtigste Grund, der allem voran steht: “nil cover if not there” – also “Niemand da, wenn nicht man selbst”.

Immer mehr Assistenzärzt*innen nehmen die Schuld auf sich, wenn Sie krank zuhause bleiben. Denn wenn ihre Kollegen wegen Krankheitsfall mehr arbeiten müssen, dann wird nicht das System beschuldigt, sondern die Person, die krank ausfällt. Photo by Erik Mclean on Unsplash

3: Was sagt die Instagram-Community?

Doch wie ist die Lage hier in deutschen Kliniken? Dazu habe ich vor ein paar Wochen eine Umfrage in einer Instagram-Story gemacht, bei der pro Frage knapp über 200 Stimmen aus der Community abgegeben worden sind.

Die erste Frage war, ob die KollegInnen eine Patientin, Anfang 30, mit fieberhaftem Infekt der oberen Atemwege krank schreiben würden. Hier gaben 98 % “Ja” an, ebenso antwortete die Mehrheit, wenn die Patientin eine nahestehende Person sei. Doch als ich fragte, wer sich selbst in dieser Situation krank schreiben würde, klickten hier nur knapp 80 % das “Ja” an!

Ähnlich ging es weiter bei den nächsten Fragen:

Knapp 85-90 % würden der Patientin (und auch der nahestehenden Person) eine AU über 5-10 Tage ausstellen. Sich selbst hingehen würden nur noch knapp 45 % über 5-10 Tage krank schreiben. Tatsächlich würden 55% Prozent sich mit einem fieberhaften Infekt sogar nur 3 Tage bis zum Doppeldienst am Wochenende krank melden. 

Erschreckende Zahlen, die die Daten aus Australien widerspiegeln  bzw. ergänzen und deutlich aufzeigen, dass hier meiner Meinung nach eine starke systemische Komponente Einfluss nimmt.

„Gesundheit wird erst geschätzt, wenn man krank wird.“

– Thomas Fuller

Dazu passen folgende Nachrichten von euch:

Eine Kollegin schrieb mir: “[…] wir würden doch auch all unsere Patienten darauf hinweisen – wissenschaftlich zurecht – dass eine inadäquate Belastung im floriden Infekt zu Herzmuskel- oder Hirnhautentzündung führen kann. Eine kleine Anekdote von mir: ich hatte als junge Ärztin einen Hausarzt, der auch immer nett war, aber mich nie als Patientin wahrnahm, sondern immer als Kollegin.

Hieß für mich – mit fieberhaften Infekten zwei Tage zu Hause und dann wieder voll in den Klinikbetrieb. Vermutlich hätte ich angeschossen sein müssen, um eine längere AU zu bekommen.

Ich habe das Jahrelang so hingenommen. Dann habe ich gewechselt (ganz ohne Groll). Und habe jetzt eine HÄ, die fürsorglich über mich nachdenkt und mich “beschützt”, wenn ich mich selbst überschätze in Phasen von Krankheit.”

“[…] auch vor der Pandemie war es schon frevelhaft, krank zur Arbeit zu gehen. Wir stecken Kollegen schwerst Kranke an. Das geht einfach nicht. Du bist unabhängig von deiner absolut notwendigen Fürsorge für deine persönliche Gesundheit verantwortungsvoll, wenn du daheim bleibst.

Allen gegenüber.

Wünsche ich mir für meine Eltern/Freunde eine infektiöse Ärztin/Pflegekraft- nein! Definitiv nicht!

4: Was sind Nachteile, wenn wir krank sind und trotzdem zur Arbeit gehen?

Womit die letzte Mitteilung von euch eine tolle Überleitung zu beschriebenen Nachteilen von Präsentismus ist.

Allgemeine Nachteile für den Arbeitgeber und das Team bedingt durch Präsentismus sind (Quelle):

  • eine geringere Arbeitsleistung und -produktivität durch die kranke arbeitende Person
  • eine erhöhte Gefahr für Fehler
  • damit verbunden erhöhte Kosten durch Fehler (Tatsächlich gibt es Schätzungen, die besagen, dass ein grippekranker Mitarbeiter zu Hause dem Arbeitgeber 1200 Euro; ein Mitarbeiter, der krank arbeitet jedoch 2400 Euro pro Jahr kostet. Dazu kommen die Kosten durch MitarbeiterInnen, die angesteckt werden.)
  • Nachteile in Arbeitssicherheit
  • Präsentismus korreliert negativ mit Zufriedenheit und kann Fehlzeiten in der Zukunft erhöhen

Darüber hinaus sind unter anderem folgende Nachteile speziell für die Klinik in der Literatur zu finden:

  • das Risiko KollegInnen und PatientInnen anzustecken und somit die Rate nosokomialer Infektionen zu erhöhen (Daten des NHS zeigen, dass 20% der Covid positiven PatientInnen haben ihre Infektion in der Klinik erworben (Quelle: Harding L, Campbell D.)
  • Up to 20% of hospital patients with Covid-19 caught it at hospital. (Guardian 2020)
  • ein erhöhtes Risiko für emotionale Erschöpfung bedingt durch Präsentismus oder die mangelnde Unterstützung der Klinik die eigene Gesundheit zu erhalten (Mitchell und Kollege)

5: Wie können wir das systemische Problem angehen?

In der Umfrage von Mitchell und Kollege gaben 76% als Lösungsvorschlag eine bessere Besetzung des Teams an, sodass bei Krankheitsausfall die übrigen KollegInnen nicht mehr belastet seien. Dieser Vorschlag zur Senkung des Präsentismus wird auch in anderen Literaturhinweisen vorgebracht.

Außerdem wurde der Wunsch nach mehr Führung von erfahrenen und leitenden KollegInnen geäußert im Sinne von mit gutem Beispiel vorangehen und krank zu Hause zu bleiben oder kranke ÄrztInnen nach Hause zu schicken.

Einen Lösungsvorschlag fand ich besonders  gut: Es wäre entlastend, wenn Krankmeldungen und die damit verbundene Mehrarbeit nicht als individuelles Problem, sondern als Problem des gesamten Klinikums gesehen werden würde. Damit würden junge ÄrztInnen sich nicht hauptschuldig für die Unterbesetzung durch die eigene Krankmeldung fühlen.

Mitarbeiter*innen sollten mehr in die Planung integriert werden, denn Sie gehören genauso zum Team. Photo by Markus Spiske on Unsplash

Was sind meine Wünsche bzw. was ist mein Fazit zum Thema ‘Krank und trotzdem zur Arbeit’?

Meiner Meinung nach bewegen wir uns als kranke ÄrztInnen auf dünnem Eis, wenn wir krank operieren, dabei Fehler machen oder unsere PatientInnen anstecken.

Auch die Arbeitsbelastung und Burn-out-Rate unter ÄrztInnen in den Kliniken ist nicht zu unterschätzen (Lies dafür in folgendenen Beiträgen von mir gerne weiter “Meine wichtigste Erkenntnis, nachdem ich dem Bornout nahe war” und Das Warum hinter ArztSein. Dies durch Präsentismus weiter zu befeuern und einen Faktor für emotionale Erschöpfung im Team zu dulden, erscheint mir als großes Problem, dass gelöst werden möchte.

Die in der Studie genannten Verbesserungsvorschläge finde ich sinnvoll und gut. Eine bessere Besetzung ist definitiv notwendig und deshalb primär wünschenswert!

Damit verbunden wünsche ich mir eine Arbeitskultur, in der man als Team ohne Schuld und Verurteilung als Mensch zusammenarbeitet. Und menschlich zusammen zu arbeiten bedeutet auch die körperlichen Grenzen zu akzeptieren. 

Die eigenen gesundheitlichen Grenzen zu überschreiten und sich selbst damit zu schaden, macht auf verschiedenste Weisen krank. Womit wir weder uns selbst, noch den KollegInnen, PatientInnen oder der Gesellschaft helfen. Das als Team zu erkennen und zu leben, ist ein wichtiger Schritt hin zu einem sicheren Arbeitsplatz. 

Und dieser Schritt beginnt bei uns, bei dir und bei mir. Wir sollten aufhören darauf zu warten, dass sich etwas verändert und selbst der Beginn sein. Es ist wichtig, unseren ChefärztInnen regelmäßige Rückmeldungen über Arbeitsbelastung und Verbesserungsvorschläge vorzubringen. Sonst wird sich in diesem Punkt nichts bewegen.

In meiner Erfahrung ist ohne Kommunikation über Probleme auch keine Verbesserung eingetreten. Wenn ich jedoch ins Gespräch gegangen bin und konkrete Ideen vorgebracht habe, durfte ich erleben, wie an der Lösung und deren Umsetzung gearbeitet wurde.

In diesem Punkt bin ich meinem Chef gegenüber für sein offenes Ohr sehr dankbar.

Außerdem glaube ich fest daran, dass jedeR EinzelneR von uns Umdenken in das eigene Team bringen kann. Zum Beispiel, indem wir uns krank melden, indem wir aufeinander achten und KollegInnen im Krankheitsfall unterstützen und Ihnen den Rücken statt das schlechte Gewissen der Kranken stärken.

Hier darf und muss jedeR selbst wirksam werden, wenn wir uns eine offene, menschliche und unterstützende Arbeitskultur wünschen.

Weshalb ich mit den o.g. Worten einer Kollegin als stete Erinnerung an deine Gesundheit diesen Beitrag beenden möchte: “Du bist unabhängig von deiner absolut notwendigen Fürsorge für deine persönliche Gesundheit verantwortungsvoll, wenn du daheim bleibst.

Allen gegenüber. Wünsche ich mir für meine Eltern/Freunde eine infektiöse Ärztin/Pflegekraft- nein! Definitiv nicht!”

Wie schätzt du das Problem ein? Bist du schon krank zur Arbeit? Wie geht dein Team mit Krankmeldungen um? Wie gehst du damit um?

Schreib mir deine Gedanken per Mail an nicole@arztsein.com oder besuche mich auf Instagram (ArztSein). Ich bin, wie immer, gespannt auf den Austausch mit euch! 

Eure Nicole

Hi, ich bin Nicole. Ich habe das Projekt ‘Arzt-Sein’ ins Leben gerufen, um Themen vorstellen, die mich auf meinem bisherigen Ausbildungsweg beschäftigt haben und für die ich im normalen Klinik-Assistenten-Leben keine Antworten gefunden habe.

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