Von den Patientinnen lernen. Das klappt immer mal wieder – und wenn es Eines gibt, was ich lernen durfte, dann ist es Dankbarkeit. Das bewusste und ehrliche Empfinden von Dankbarkeit hat meinen Alltag verändert und mich zufriedener gemacht. Woran das liegt, was uns die Forschung über Dankbarkeit bereits sagen kann und wie ich Dankbarkeit umsetze, das habe ich in diesem Beitrag erarbeitet.
Wieso uns Dankbarkeit zufriedener machen kann
Aus der Klinik
Wenn es etwas gibt, was ich in meiner Arbeit in der Klinik von meinen Patientinnen gelernt habe, dann ist es Dankbarkeit. Ich habe Dankbarkeit von den onkologischen und palliativen Patientinnen lernen dürfen (Hört euch dazu gerne das Interview mit meiner Patientin Frau M. an). Denn viele Krebspatientinnen sind immens dankbar und zwar für die kleinen Dinge im Leben
- Dafür, dass sie morgens aufwachen,
- Dafür, dass ihr Körper funktioniert und vielleicht an einem Tag weniger Schmerzen zu spüren sind,
- für ein gutes Gespräch,
- für eine Mahlzeit ohne Übelkeit,
- für einen Spaziergang ohne Fatigue,
- für die Menschen um sie herum,
- kurz: für Lebensqualität und -Zeit, die wir oft für selbstverständlich erachten.
Und in meinen Beobachtungen habe ich häufig eines feststellen können: nämlich, dass die dankbaren Patientinnen auch meist die zufriedeneren waren. Sie sind glücklicher, schätzen die guten Tage unter der Chemotherapie, haben weniger depressive Gedanken und sind insgesamt positiver gestimmt.
Ist das nun nur eine Beobachtung von mir? Und was machen wir Ärzt*innen eigentlich mit unserer Lebenszeit? Genießen wir unser Leben und die Gesundheit, die wir haben? Und sind wir dankbar dafür?
Ich denke, dass insbesondere die Berufseinsteiger unter uns Ärzt*innen nach den ersten 1 bis 2 Jahren erschöpft und müde sind und sich fragen, wieso sie eigentlich den Beruf ergriffen haben. Mir geht es manchmal auch so. Dankbarkeit dafür zu empfinden ist mir lange nicht in den Sinn gekommen – im Gegenteil!
Es wundert nicht, dass es uns so geht, denn die Arbeitsbedingungen geben nicht viel her, für das man dankbar aufstehen und motiviert zur Arbeit gehen kann (Weitere Berichte zu diesen Themen findet ihr hier im Interview mit Berufsanfängerin Jasmin und hier in einem Beitrag über Motivation). Eben weil es so ist, ist ArztSein entstanden – und dieser Beitrag mit meinen Gedanken und etwas Wissenschaft zum Thema ‘Dankbarkeit’.
„Gratitude as a discipline involves a conscious choice. I can choose to be grateful even when my emotions and feelings are steep and hurt and resentful. It is amazing how many occasions present themselves in which I can choose gratitude instead of a complaint. I can choose to be grateful when I am criticized, even when my heart responds in bitterness.“
Eine Definition – Was ist ‘Dankbarkeit’ eigentlich?
Bevor wir nun in die Materie einsteigen, macht es Sinn, kurz einen Moment mit der Definition von ‘Dankbarkeit’ nach Emmons, Professor der Psychologie und führender Forscher über das Thema ‘Dankbarkeit’ (daher stütze ich mich für diesen Beitrag auf seine Arbeiten 🙂 ) zu verbringen, denn es gibt zwei Bereiche in der Bedeutung von Dankbarkeit:
1 Dankbarkeit, die eine Person empfindet, weil sie einen Vorteil von einer anderen Person rein aus guter Intention heraus erhalten hat (Emmons et al. 2013). Die ursprüngliche Bedeutung kommt aus dem Lateinischen von gratia = Gunst und gratus = dankbar. Emmons und Kollegen schrieben so schön: “All derivatives from this Latin root have to do with kindness, generousness, gifts, the beauty of giving and receiving, or getting something for nothing (Emmons et al. 2013).”
Dazu zählt das Gefühl von Dankbarkeit, welches sich aus zwei Teilen zusammensetzt, nämlich die Anerkennung von guten Dingen im Leben bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass eben diese guten Dinge unangetastet vom eigenen Einfluss sind (Emmons et al. 2013).
2 Emmons und Kollegen beschreiben einen weiteren Teil der Dankbarkeit – einen transzendenten oder übersinnlichen Teil. Dieser spirituelle Teil lässt bswp. in Religionen fühlen, dass es etwas gibt, was über uns steht. Man freue sich über den Anderen und suche nach Möglichkeiten des Gebens – rein aus der Motivation einer dankbaren Wertschätzung heraus.
Dankbarkeit wird gefühlt, weil man sich einer Gnade bewusst ist und nicht, weil man glaubt, etwas verdient zu haben. So ist die Motivation zum Geben aus Dankbarkeit auch authentisch, offen und ehrlich (Emmons et al. 2013). Laut den Autoren sei dieser Teil der Dankbarkeit essentiell, da sonst Dankbarkeit nur aus narzisstischer Selbstverbesserung heraus praktiziert werden würde.
„Gratitude, in this profound sense, is not simply a mere attitude, a deep feeling, or even a desirable virtue. It is as elemental as life itself.“
Wissenschaftliche Daten über ‘Dankbarkeit’
Die positiven Effekte von Dankbarkeit sind seit Beginn der Forschung über die Positive Psychologie (fokussiert sich u.a. die positiven Aspekte des Menschens, wie Glück, Optimismus, Stärken,… ) gut untersucht worden. So konnte gezeigt werden, dass Dankbarkeit am stärksten mit mentaler Gesundheit und auch Zufriedenheit korreliert – mehr noch als Optimismus, Hoffnung oder Mitgefühl.
Laut Emmons und Kollegen würden dankbare Menschen mehr positive Emotionen erleben wie Freude, Liebe, Glück und Optimismus und seien gleichzeitig geschützt vor negativen Emotionen wie Neid, Missgunst und Gier (Emmons et al 2013).
Insgesamt seien dankbare Menschen mental gesünder, würden sich schneller von Schicksalsschlägen erholen, hätten eine bessere Resilienz und würden mit alltäglichem Stress besser zurecht kommen.
Ähnlich wie Achtsamkeitsbasierte Meditation positive Auswirkungen auf unseren Geist und Körper und auch auf unsere Gesundheit hat (Ließ und hör Dir dazu folgende Beiträge an: „Was ist Achtsamkeit?“ und „Ein Interview mit Boris Bornemann„), so können ähnliche Auswirkungen auf die positiven Emotionen hervorgerufen durch Dankbarkeit festgestellt werden: ein besseres Immunsystem, kardiovaskuläre Vorteile, niedrigere Cortisolausschüttungen in Stress-Situationen sowie eine Reduktion von Schlaganfällen und Depressionen (Fredrickson & Losada, 2005).
Tatsächlich führen die Autoren mehrere Studien zusammen, die belegen, dass das Führen eines Dankbarkeit-Tagebuchs u. a. Wachsamkeit, Enthusiasmus, Entschlossenheit und Achtsamkeit stärkt, was wiederum die Schlafqualität verbessere und zu mehr Sport führe.
Eine Aufgabenstellung der Studien war:
“We want to focus for a moment on benefits or gifts that you have received in your life. These gifts could be simple everyday pleasures, people in your life, personal strengths or talents, moments of natural beauty, or gestures of kindness from others. We might not normally think about these things as gifts, but that is how we want you to think about them. Take a moment to really savor or relish these gifts, think about their value, and then write them down every night before going to sleep.” (Emmons et al. 2013)
Der positive Effekt sei übrigens nicht auf die Empfindung der einzelnen Studienteilnehmer*innen beschränkt gewesen – auch das soziale Umfeld habe positive Veränderungen beschrieben. So seien die Teilnehmer*innen hilfsbereiter, offener, optimistischer und vertrauensvoller eingeschätzt worden (McCullough, Emmons, & Tsang, 2002).Für Emmons und Kollegen steht dabei jedoch fest, dass die Fähigkeit kurzfristig Dankbarkeit zu empfinden nicht damit gleichzusetzen ist, Dankbarkeit als eine Tugend zu leben.
„Gratitude is not just a transient emotion, but it is also a virtue.“
Wie ‘praktiziere’ ich Dankbarkeit?
Auch über diesen Aspekt haben Emmons und Kollegen geschrieben:
So wie vieles, bedarf es für den Aufbau nachhaltiger Dankbarkeit einer täglichen, disziplinierten Praxis, die darauf aufbaut sich achtsam am Ende eines Tages mit den dankbaren Momenten der zurückliegenden Stunden zu beschäftigen und dieses Mindset zu stärken, sei es durch das Schreiben eines Tagebuches oder eines Briefes.
Die Autoren formulieren als ersten wichtigen Schritt den Ausbau der eigenen Aufmerksamkeit – Aufmerksamkeit für die alltäglichen Dinge des Lebens, die man eben für alltäglich und gegeben wahrgenommen habe. Gleichzeitig würden die positiven, dankbaren Gedanken wenig Platz und Raum lassen für negative Emotionen, die der Dankbarkeit entgegen stehen.
Außerdem sei insbesondere das schriftliche Formulieren der Dankbarkeit dem reinen dankbaren Denken überlegen.
Die folgenden drei starken Aussagen von Emmons und Kollegen möchte ich euch noch mitgeben:
- “Gratitude practice is systematically paying attention to what is going on right in one’s life, to see the contributions that others make in these good things, and then expressing gratitude verbally and behaviorally.”
- “Gratitude practice is intentionally shifting your attention from the negative to the positive and allowing your inner voice to speak that truth.”
- “Gratitude practice is acknowledging that even difficult and painful moments are our teachers and we can be grateful for them.”
Was sind meine Ideen für mehr Dankbarkeit in der Klinik
Dass das regelmäßige Praktizieren von Dankbarkeit wichtig und sinnvoll ist, hat auch Brené Brown, Autorin und Professorin, erkannt und sowohl in ihr privates als auch in ihr berufliches Leben einfließen lassen.
So berichtet sie in ihrem Buch “Dare to lead” darüber, dass sie und ihre Familie beim gemeinsam Abendessen jeder einen dankbaren Moment des Tages teilen. Auch Meetings lässt sie gerne mit einem Moment der Dankbarkeit beginnen oder enden. Gerade diese Übung würde ihrer Meinung nach Vertrauen und Verbindung im Team aufbauen – eine sehr schöne Idee, wie ich finde, die sich mindestens im Kreise der Assistenzärzt*innen umsetzen lässt!
„It’s allowing yourself to recognize the shiver of vulnerability – that “Oh shit, I have something worth losing now” feeling – and to just sit with it, and be grateful that you have something you want, in your hand, that it feels good to hold and recognize.“
Ich persönlich mag es sehr eine Dankbarkeitsmeditation zu machen oder in regelmäßigen Abständen die dankbaren Momente aufzuschreiben.
Dafür habe ich zum einen ein kleines Büchlein, zum anderen ein großes Einmachglas, in das mein Partner und ich zum Beispiel alle schönen Tage des Jahres auf einem Zettel geschrieben sammeln. Außerdem findet ihr hier meinen ArztSein Wochenplaner, der ein extra Kästchen für Dankbarkeit zum Schreiben hat.
Wofür bin ich eigentlich als Ärztin dankbar?
An dieser Stelle möchte ich euch auch verraten, was es genau ist, dass ich trotz der oben angesprochenen verbesserungswürdigen Arbeitsbedingungen (Hierzu gibt es übrigens auch einen Beitrag von mir) für dankenswert halte!
Da wäre an erster Stelle die finanzielle Sicherheit zu nennen und alles, was sich für mich daraus ergibt. Das ist nämlich eine ganze Menge. Auch wenn es oft so ist, dass ich bei dem Mangel an Freizeit wenig Zeit habe mein verdientes Geld auszugeben, so ist es dennoch so, dass ich mir sehr viel leisten kann, wenn ich das möchte. Ich bin in der glücklichen Situation, dass ich keinen Studienkredit zurückzahlen muss und kann mir bspw. sehr schöne Urlaube leisten. Das schönste Geschenk, was ich mir bedingt durch meine finanzielle Sicherheit machen konnte, ist der kleine Campervan, den mein Partner und ich uns vor 1 Jahr gekauft haben.
An zweiter Stelle kommt direkt die berufliche Sicherheit. Ich finde als Ärztin jederzeit und überall in Deutschland eine Stelle. Ich bin nicht existenzgefährdet in irgendeiner Weise.
Wofür bin ich noch dankbar, was meinen Arbeitsalltag angeht? Für die KollegInnen, die ich schon kennenlernen durfte, von denen ich gelernt habe und denen ich Dinge beigebracht habe. Es gab stets einen guten Zusammenhalt – ohne den das Arbeitspensum sonst auch eigentlich nicht auszuhalten wäre.
Ich bin dankbar für die wirklich schönen und berührenden Momente mit den PatientInnen. Sei es eine Geburt, die nahe geht oder ein emotionales Gespräch, die Momente, wenn Tränen kommen, weil man berichten darf, dass ein Tumor komplett entfernt wurde oder der Dank und das Vertrauen der PateintInnen. Diese Momente machen mein ArztSein zu dem, was es ist und sind mit der Hauptgrund, weshalb ich morgens aufstehe und meinen Weg in die Klinik finde.
Natürlich ist es auch schön, wenn man mal einen Eingriff das erste Mal erfolgreich unter Anleitung durchgeführt hat – ich erinnere mich immer wieder gern an den Moment, als ich bei einer Sectio das erste (und seitdem einzige) Mal es geschafft habe ein Baby am Termin mit stehender Fruchtblase aus der Gebärmutter zu entwickeln. Meistens springt die Fruchtblase dabei oder auch gewollt schon vorher. Aber dieser kurze Moment das Neugeborene in der Fruchtblase schwimmend zu beobachten, die Demut gegenüber der Natur und der Medizin, die ich in diesem Moment – zusammen mit enormer Freude – empfunden habe, lässt mich weiterhin Freude und tiefe Dankbarkeit spüren, wenn ich daran zurückdenke. Dankbarkeit auch darüber, dass ich diesen wundervollen Beruf überhaupt erst ausüben darf!
Diese Aufzählung kann ich noch eine Weile weiterführen, ich möchte jedoch nur noch einen letzten Aspekt einbringen: Ich empfinde auch Dankbarkeit für Herausforderungen und Fehler, da sie mich weiterbringen und zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin. Manchmal fällt es mir nicht ganz so leicht, in einer belastenden Situation dankbar dafür zu sein, aber ich weiß, dass ich daraus lernen werde und sich etwas Positives deshalb für mich entwickeln wird.
Collect Moments not Things
In meinem Interview über Resilienz hat Dr. Isabella Helmreich die Kichererbsen angesprochen: Man kann zum Beispiel über den Tag ein paar Kichererbsen in der Hosentasche mit sich tragen und für jeden Moment eine in die andere Hosentasche wandern lassen. Dieses Prinzip habe ich mit meinem “Collect Moments not Things”-Beutelchen für euch umgesetzt, welches ihr hier findet.
Und letzten Endes können wir uns immer von unseren Patient*innen inspirieren lassen – wenn wir unseren Geist für Dankbarkeit sensibilisiert haben und dafür offen sind.
„Unexpected capacities emerge, existing relationships once taken for granted become more precious, awareness and insight into what really matters in life is realized, and spiritual senses are heightened.“
Ich hoffe, dass sich euer ArztSein mit einer kleinen Menge täglicher Dankbarkeit genauso verändert wie bei mir. Schreibt mir gern eure Gedanken, Ideen und Erfahrungen dazu – entweder per Mail an nicole@arztsein.com oder per Nachricht bei Instagram (ArztSein). Ich freue mich darauf von euch zu hören und bin dankbar für dieses Projekt und den Austausch mit euch.
Bis ganz bald wieder, Eure Nicole
Meine Quellen möchte ich übrigens nicht verschweigen 🙂
Emmons RA, Stern R. Gratitude as a psychotherapeutic intervention. J Clin Psychol. 2013 Aug;69(8):846-55. doi: 10.1002/jclp.22020. Epub 2013 Jun 17. PMID: 23775470.
Fredrickson, B. L. (2004). Gratitude like other positive emotions, broaden and builds. In R. A. Emmons & M. E. McCullough (Eds.), The psychology of gratitude (pp.145–166). New York, NY: Oxford University Press.
McCullough, M. E., Emmons, R. A., & Tsang, J. (2002). The grateful disposition: A conceptual and empirical topography. Journal of Personality and Social Psychology, 82, 112–127.